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Keine friedfertige Frau
Margarete Mitscherlich-Nielsen machte sich besonders um die
Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie der Weiblichkeit verdient. In
Kulturdebatten und in der Psychoanalyse engagierte sich die selbstbezeichnete
Feministin leidenschaftlich für die Rolle der Frau. Bis zu ihrem Lebensende bewahrte
sie sich eine imponierende intellektuelle Wachheit. Christiane Schrader und
Ingrid Moeslein-Teising, Herausgeberinnen von »Keine friedfertige Frau«,
würdigen die Psychoanalytikerin, Autorin und Trägerin des
Bundesverdienstkreuzes anlässlich ihres 100. Geburtstag, den sie am 17. Juli
gefeiert hätte.
Der folgende
Artikel erschien in Dr. med. Mabuse, Nr. 228, Juli/August 2017, 42. Jahrgang, S.
42 f., online verfügbar unter www.mabuse-verlag.de.
Keine friedfertige
Frau
Margarete Mitscherlich-Nielsen zum 100. Geburtstag
Margarete Mitscherlich, die »Grande Dame« der Psychoanalyse,
hat es in einzigartiger Weise verstanden, Psychoanalyse, Feminismus und
Gesellschaftskritik zu verbinden und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu
machen.
Sie trug gemeinsam mit ihrem Mann Alexander im
Nachkriegsdeutschland mit dem Buch »Die
Unfähigkeit zu trauern« (1967) wesentlich zum damals ungebetenen,
kritischen Diskurs über den Nationalsozialismus bei. Sie half, die
Psychoanalyse nach deren Zerstörung in der NS-Zeit in Deutschland wieder zu
etablieren, machte sich um die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie
der Weiblichkeit und um die Frauen verdient. Sie engagierte sich
leidenschaftlich für ihre Themen und die Kulturdebatten ihrer Zeit, und sie
behielt sich bis zu ihrem Lebensende eine imponierende intellektuelle Wachheit.
Eine Lebens- und Denkgemeinschaft
1917 in einer dänisch-deutschen Familie geboren, entwickelte
sie Freiheitsdrang und eine kritische Haltung während der NS-Zeit, als sie ihr
Medizinstudium in Heidelberg absolvierte.
1946 wurden sie und Alexander Mitscherlich ein Paar, obwohl
er verheiratet und Vater von sechs Kindern war. Den gemeinsamen Sohn zog sie
zunächst alleine auf – damals eine schwierige Situation. Als sie Anfang der
1950er Jahre in der von Alexander Mitscherlich gegründeten Klinik für
Psychosomatik in Heidelberg tätig wurde und Ende der 1950er zur
psychoanalytischen Ausbildung und Lehranalyse bei Michael Balint nach London
ging, gab sie ihren Sohn zu ihrer Mutter – eine Entscheidung, mit der sie immer
wieder haderte und die sie immanent in ihrem Werk beschäftigte.
Jahrzehntelang bildeten »die Mitscherlichs« eine Lebens- und
Denkgemeinschaft von erstaunlicher Kreativität und Produktivität. Vieles von
seinem Werk basierte auf partnerschaftlichem Teamwork. Sie kamen in London mit
den Psychoanalytikern in Kontakt, die sich im Nationalsozialismus ins Exil
gerettet hatten, und begründeten dort persönliche Freundschaften und
kollegialen Austausch, der der hiesigen Psychoanalyse zugutekam.
Anlässlich des 100. Geburtstages von Sigmund Freud 1956
organisierte Alexander Mitscherlich in Frankfurt am Main und Heidelberg eine
Ringvorlesung, zu der namhafte Psychoanalytiker aus aller Welt kamen. Zum
ersten Mal nach 1933 präsentierte sich die Psychoanalyse einer breiteren
Öffentlichkeit. In Frankfurt fand eine akademische Feier in Anwesenheit des
damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss statt. Der Hessische
Ministerpräsident Georg August Zinn sah in der Durchdringung der Politik von
Psychoanalyse den wirkungsvollsten Schutz gegen die Diktatur: »Ein Staat, in
dem die Erkenntnisse und das Verfahren der Tiefenpsychologie nicht nur bis tief
in die Kliniken und ärztlichen Praxisräume, sondern auch in die Strafgesetze,
in den Strafvollzug, in die Schulzimmer und in die sozialen Berufe eindringen
können, ist wahrscheinlich irgendwie immun gegen Diktaturen«. In der Folge
entstand 1960 das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut (SFI) als
psychoanalytisches Forschungs- und Ausbildungsinstitut, wo die Mitscherlichs
fortan wirkten.
Publikationen und Auszeichnungen
Margarete Mitscherlich war Lehranalytikerin und
Ausbildungsleiterin am SFI und in der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung
(DPV). Sie arbeitete in der »Psyche«-Redaktion
mit, veröffentlichte eigene Arbeiten und fand ihre Themen. Sie
verfasste etliche Bücher, etwa zur Dynamik innerer und äußerer Konflikte, über
Vorbilder und deren fragliches Ende, über Frauen und immer wieder zu den Nachwirkungen
der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Gegenwart, zu zeitgeschichtlichen
Fragen und gesellschaftlichen Veränderungen und der bleibenden Notwendigkeit der
Erinnerungs- und Trauerarbeit. Sie vertrat ihre Themen in Publikationen, Medien
und Veranstaltungen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen (z.B.
die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt am Main, das Große Verdienstkreuz des
Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, den Tony-Sender-Preis für
frauenpolitisches Engagement und Einsatz für die Gleichberechtigung).
Psychoanalyse und Feminismus
In der damaligen BRD erhielt der psychoanalytische Diskurs
über die Entwicklung der Frau ab Ende der 1960er Jahre bedeutsame Impulse durch
die mit der Studentenbewegung wieder und neu entstandene Frauenbewegung.
Margarete Mitscherlich griff die Aufbruchstimmung der 1970er Jahre auf und war
die erste Psychoanalytikerin in Deutschland, die die Impulse des Feminismus
aufnahm.
Sie erkannte die Möglichkeit der Rückgewinnung verschütteter
weiblicher Potenziale des Denkens und Handelns in einem lebenslangen Prozess
der Emanzipation, die nicht nur den Frauen selbst, sondern dem
gesellschaftlichen Leben insgesamt zugutekäme. Sie begann, nicht Freud und
seine Methode, wohl aber seine Weiblichkeitstheorie grundlegend infrage zu
stellen. In ihren Arbeiten kritisierte sie seine patriarchalische Grundhaltung
und lenkte das Augenmerk auf die sadomasochistische Dynamik zwischen den
Geschlechtern und auf die Konflikte um Dominanz und Unterwerfung in der inneren
Welt der Frau. Aber sie hielt die psychoanalytische Methode, die Freud entwickelte,
für grundlegend und emanzipatorisch, da sie ermöglichte, die Folgen
gesellschaftlicher Doppelmoral, individueller Denkverbote, Tabus und Hemmungen
zu untersuchen und zu transformieren. Daher sah sie Psychoanalyse und
Feminismus stets als sich ergänzend. Sie revidierte die Konzeption des
phallischen Monismus und den Mythos vom vaginalen Orgasmus. Umso mehr
kritisierte sie die einschüchternde Wirkung, die diese und andere
psychoanalytische Theorien auf Frauen hatten, etwa auch die ihnen
zugeschriebene Freud'sche Trias von Masochismus, Passivität und Narzissmus. Sie
warf die berechtigte Frage auf, inwieweit die (männliche) Geschlechtsidentität
der Psychoanalytikerinnen ihr Festhalten an der Freud'schen Weiblichkeitstheorie
begünstigen, den Patientinnen aber schaden könnte.
Die »Mühsal der Emanzipation«
Mit Alice Schwarzer verband sie eine lange Freundschaft.
1977 verkündete sie in deren damals neu gegründeten Zeitschrift »EMMA«: »Ich bin Feministin.« Der
hiesige feministische Diskurs wurde von ihr durch zahlreiche Vorträge, Artikel
und Bücher und ihre publizistische Tätigkeit als Mitherausgeberin der »Psyche«
wesentlich mitbestimmt. Sie schrieb diese Arbeiten in ihrem Buch über »Die
friedfertige Frau« (1985) fort – ein Titel, dessen Ironie oftmals
missverstanden wurde.
Sie thematisierte darin die »untergründig« bleibenden
passiven Aggressionen und sadistischen Impulse vieler Frauen, die diese in eine
selbstbestrafende »Vorwurfs- und Opferhaltung« umwandelten, gegen ihren Körper
wendeten oder Entwertung und Rache anderen gegenüber unbewusst auslebten. Ganz
unironisch und sehr engagiert plädierte sie jedoch dafür, die eigene Unschulds-
und Vorwurfshaltung infrage zu stellen, Ängste vor der eigenen Aggression zu
überwinden und Schuldgefühle besser ertragen zu lernen. Sie war sich der »Mühsal
der Emanzipation« bewusst. Dennoch empfahl sie den Frauen, ihre vermeintlichen
Schwächen, wie Einfühlungs- und Liebesfähigkeit, Verantwortung, Fürsorge und
ausgleichende Vermittlung auch für sich selbst wahrzunehmen und sie aktiv und
selbstbewusst zu Stärken zu entwickeln – auch im gesellschaftlichen Diskurs.
Ein nicht endender Diskurs
Margarete Mitscherlich-Nielsen führte bis ins hohe Alter den
analytischen Diskurs in ihrem Sprechzimmer im SFI fort. Sich ein lebendiges und
befreites Denken zu bewahren, war für ihre psychoanalytische Arbeit ebenso
zentral wie für ihren Weg, den Anfeindungen des Alters standzuhalten. Ihre
kreativen Kräfte waren bis an ihr Lebensende auf den gesellschaftlich-historischen
und wissenschaftlichen Kontext gerichtet, auf die von dort zur Psychoanalyse
kommenden Fragen und Impulse sowie auf die Beiträge, die die Psychoanalyse hier
wiederum leisten konnte und kann. Sie hätte zugestimmt, »dass das
emanzipatorische Potential der Psychoanalyse gewiss auch für das Verständnis
künftiger sozialer und politischer Prozesse von Nutzen sein« wird.
Das Buch im Psychsozial-Verlag: