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Erinnerungen an Alfred Lorenzer zum 100. Geburtstag

Ein kleiner biographischer Abriss
Alfred Lorenzer, geb. 1922 in Ulm, gestorben 2002 in Perugia / Italien, war Prof. Dr. med., Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler. Er studierte ab WS 1941/42 als Angehöriger einer Studentenkompanie Medizin. In diesem Rahmen leistete er in den Semesterferien medizinische Hilfsdienste in der Armee.
1954 promovierte er bei Ernst Kretschmer in Tübingen und wandte sich dort dann sehr bald der Psychoanalyse zu.
Ab 1960 ging er zu Alexander Mitscherlich, erst 1960-62 nach Heidelberg, dort machte er auch seine psychoanalytische Ausbildung. 1963-1969 ging er mit Mitscherlich in das für diesen neu gegründete Sigmund-Freud-Institut Frankfurt, wo er insbesondere zu (Kriegs-)Traumatisierung und zur Metatheorie der Psychoanalyse arbeitete.
Hervorragend sind seine umwälzenden Neubestimmungen der Psychoanalyse auf metatheoretischem und metapsychologischem Niveau. Er bestimmte die Psychoanalyse als eine Sozialwissenschaft, ihre methodologischen Grundlagen als kritisch-hermeneutisch. Er erkannte das psychische und das körperliche Erleben als eine Einheit, das heißt auch, dass er an der Freud’schen Metatheorie, insbesondere der Triebtheorie festhielt. Psychoanalyse kennzeichnete er als eine Hermeneutik des Leibes. Lorenzer hat deshalb auch Biologie, Neurologie und Neurowissenschaften als Gegenstand seiner psychoanalytisch-methodologischen Reflexion behandelt.
1969 erfolgte seine Habilitation an der Universität Frankfurt. Von 1971 bis 1974 hatte er eine Professur für Sozialpsychologie an der Universität Bremen, danach kehrte er als Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialisationstheorie an die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt zurück. Hier entstand sein Konzept einer psychoanalytisch fundierten tiefenhermeneutischen Kulturkritik, wofür er einen Methodentransfer, die Tiefenhermeneutische Kultur- und Sozialanalyse vorlegte.
Persönliche Eindrücke
Meine eigene Geschichte mit Alfred Lorenzer beginnt 1970 im Wintersemester. Es war mein zweites Studiensemester und ich besuchte ein Seminar von Klaus Horn (1934-1985) und Alfred Lorenzer (1922-2002) zum Thema »Die Struktur des Vorurteils am Beispiel des Antisemitismus«. In diesem Seminar hatte ich es übernommen, das Buch eines französischen Philosophen vorzustellen: Edgar Morin (1969): La rumeur d´Orléans. Seitdem wurde ich besonders von Lorenzer gefördert, aber auch gefordert, denn er was ein anspruchsvoller und temperamentvoller Lehrer. So stauchte er mich einmal ordentlich zusammen, als ich seine metatheoretische Bestimmung der Psychoanalyse als ›Szenisches Verstehen‹ nicht genügend deutlich und nachvollziehbar in einer geplanten Veröffentlichung dargelegt hatte. Mit folgender Formulierung war er dann versöhnt:
»Gegenstand der Untersuchungen Lorenzers dagegen sind die erkenntnistheoretischen Probleme des psychoanalytischen Verstehens und damit auch des Wissenschaftscharakters der Psychoanalyse. Seine Betrachtungen liegen in zahlreichen Aufsätzen und wesentlichen Büchern vor [...]. Er wollte wissen: was für eine Wissenschaft ist die Psychoanalyse? Und: wie kommen wir als Psychoanalytiker zu Erkenntnis?«
(Reinke, E. »Szenische Evidenz« und »Szenisches Verstehen«. Zur Vermittlung des Werks von Hermann Argelander und Alfred Lorenzer (2013). Jahrbuch der Psychoanalyse, 66, https://www.academia.edu/4260450/Szenische_Evidenz_und_Szenisches_Verstehen_ [Stand: 22.03.2022] S. 6.)
Lorenzer wurde mein wissenschaftlicher und psychoanalytischer Mentor bis zu meiner Habilitation. Ich wurde mit der venia legendi ›Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpsychologie‹ unter der Ägide von Lorenzer als ersten Gutachter 1989 habilitiert. Als zweiten Gutachter gewann ich übrigens W. Goudsmit, Professor an der Reichsuniversität Groningen und Spezialist im Bereich forensische Psychiatrie (Gutachten vom 23.05.1989). Ein drittes Gutachten stammte von Heinz Steinert, ebenfalls Prof. an der Goethe-Universität Frankfurt a .M. – Soziologie, Strafrecht, Kritische Theorie (Gutachten vom 23.05.1989).
Als ich mit Alfred Lorenzer Ende Juli 1989 zum Dekan der Fakultät ging, um meine Habilitationsurkunde im Empfang zu nehmen, seufzte dieser Herr: »Ach ja, schon wieder eine arbeitslose habilitierte Soziologin«. Lorenzer wies ihn zurecht und erklärte stolz: das trifft nicht auf meine Habilitandin zu!
Im Alter von 67 Jahre wurde Alfred Lorenzer durch einen Hirnschlag aus seinem Schaffen herausgerissen. Nach für Lorenzer quälenden Klinikaufenthalten holte ihn seine Lebensgefährtin Ulrike Prokop zurück in sein Haus, wo er sich wohler fühlte. Allerdings war sein wachsamer und kontroverser intellektueller Geist erloschen. Der Kontakt war jedoch nicht abgebrochen, er spielte sich umso intensiver auf der emotionalen Ebene ab – sozusagen der viszeralen Ebene. Bisweilen blitzte noch einmal etwas vom alten Geist auf. Zu der Zeit wohnte er in Frankfurt in der Wohnung seiner Lebensgefährtin. Dort hatte Ulrike Prokop eine Vollpflege organisiert. Ich komme also eines schönen Tages in diese Wohnung zu Alfred Lorenzer, mehr oder weniger direkt von einer Tagung, im Rahmen derer er und sein Werk geehrt worden waren. Das vermittelte ich ihm. Und nun geschah es, daß Lorenzer plötzlich aufmerksam wurde. Er setzte sich in seinem Stuhl auf, Brust raus, Schultern zurück. Auf seinem Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln und so sagte er mir, indem er meine Hand drückte: »Man kann nie genug Ehre haben«. Das war eines meiner letzten Erlebnisse mit ihm, zuletzt lebte er dauerhaft in seinem Ferienhaus in der Toskana.
Fama crescit enundo …
… das Gerücht wächst laufend, wie der Lateiner sagt, oder zu Deutsch: Das Gerücht wächst, indem man es beachtet.
Das geistige Erlöschen Lorenzers war eine traurige Geschichte, nicht zu ändern, aber noch nicht das Ende. Ich gedenke nun des Phänomens, wobei wir Nachgeborenen mit Eifer und anklagendem Gestus unsere Eltern, Großeltern und Lehrer verfolgen, die in den Jahren des Nationalsozialismus lebten, arbeiteten und Entscheidungen zu treffen hatten. Unser Gestus ist der einer »Übertribunalisierung«, mit »abnehmender Gnadensrate« (Marquard, 1980). Interessant in unserem Zusammenhang hier ist auch Marquards Begriff der »Selbstgerechtigkeit«. Diese kommt darin zum Ausdruck, daß Menschen sich selbst ein gutes Gewissen zuschreiben, und andere Menschen bis zum Exzess anklagen. So entwickelte sich auch ein ›Casus Lorenzer‹, das heißt, Alfred Lorenzer wurde von einigen Autoren 2017 und 2018 in der Zeitschrift Freie Assoziation unter Anklage gestellt. Das Gerücht – Belege oder Beweise fehlten gänzlich – lautete, man sei auf eine ›Verstrickung Lorenzers in den Nationalsozialismus‹ gestoßen.
Für mich selbst hatte ich entschieden, mich an dieser Gerüchteküche nicht zu beteiligen. Ich habe es vorgezogen, seine Werke an meine Studenten und Doktoranden weiterzuvermitteln und nun zu seinem 100. Geburtstag die Vorbereitungen getroffen zur Veröffentlichung seiner Vorlesungen aus dem WS 1985 / 1986 abzutippen und zu edieren: Alfred Lorenzer (2022): Freuds metapsychologische Schriften. Vorlesungen zur Einführung.
Ellen Reinke, Version 22.03.2022
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