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Die linke Stimme der Vernunft

Die linke Stimme der Vernunft
Zum Tode des israelischen Psychoanalytikers Carlo Strenger

Carlo Strenger in Interviews zu sehen, seine Texte zu lesen war für mich immer eine ganz außerordentliche Ermutigung. Kahlköpfig, bebrillt verkörperte dieser Psychoanalytiker und unbeugsame Linksliberale die Stimme der Vernunft. Einer Hoffnung auf eine vielleicht doch friedlichere Zukunft. Soeben ist der in Zürich geborene und in Tel Aviv lebende Carlo Strenger im zarten Alter von 61 Jahren ganz überraschend verstorben. Der Schock sitzt tief. Man kann es nicht glauben.

Das Feindbild der Rechten
In Israel und teils auch weltweit war der psychoanalytische Freigeist Carlo Strenger seit Jahren das Feindbild rechtspopulistischer und selbsternannter »pro israelischer« Gruppierungen. Sie hassten ihn, weil er sich jedem Ressentiment verweigerte und – trotz allen Terrors – auf eine friedliche Regelung von Konflikten insistierte. Vor allem jedoch beharrte der undogmatische israelische Freudianer auf das Prinzip der Eigenverantwortung, der Selbstreflexion in den Zeiten eines zunehmenden Terrors und eines besorgniserregenden dumpfen Populismus. Hiergegen müssten wir uns als kritische Intellektuelle wehren, uns dem Ressentiment verweigern, lautete seit Jahren sein unermüdliches Credo.

Biografie
Am 16.07.1958 in Basel geboren wächst Carlo Strenger in einer orthodoxen jüdischen Familie auf. Als junger Mann geht er aus innerer Überzeugung nach Israel. Es folgt ein Studium der Psychologie und Philosophie in Zürich, 1989 promoviert er in Jerusalem und lehrt als Hochschullehrer in Tel Aviv. Insbesondere bei Richard Schneider, der für die ARD als Israelkorrespondent tätig war, war er ein Dauergast. Man duzte sich sogar vor der Fernsehkamera. (Ein Interview auf YouTube)

Seine kosmopolitische Prägung und innere Orientierung bewahrt er sich: Der Psychoanalytiker wirkt im akademischen Beirat der renommierten Wiener Sigmund Freud Stiftung, ist aber auch am Daseinsanalytischen Seminar in Zürich sowie am Institut für Terrorforschung an der Universität in New York tätig.

Schon bald, bereits in den 1990er Jahren, wird der Freudianer als außergewöhnlich produktiver Publizist eine international wahrgenommene, mahnende Stimme: In auflagenstarken Medien wie Haaretz, der Neuen Zürcher Zeitung und im Guardian publiziert Carlo Strenger regelmäßig als Kolumnist und als politischer Aufklärer zu israelischen und kulturellen Fragen, zum Nahostkonflikt sowie zu psychoanalytischen Themen. Aber auch im deutschen Fernsehen war er bei liberalen Journalisten ein vielgefragter Interviewpartner.

Er hatte keine Schwierigkeiten, Deutsch zu sprechen. Viele seiner Bücher erschienen auch auf deutsch. Verheiratet ist er mit Julia Elad-Strenger, einer politischen Psychologin.

Antisemitische Attacken der Dschihadisten und die Zwei-Staaten-Lösung
Die antisemitischen Attacken in Europa – Paris, Brüssel, aber auch am Berliner Breitscheidplatz – wurden im terrorismuserprobten Israel, hebt Carlo Strenger 2016 in einem Interview mit der ZEIT von 2016 hervor, keineswegs mit Überraschung wahrgenommen; und doch bewahrte man sich in Israel, trotz besserwissenden europäischen Attitüden, dennoch das Mitgefühl.

Politisch war Carlo Strenger sehr lange ein Vertreter der Zwei-Staaten-Lösung. Der nicht nachlassende Terror durch palästinensische und vom Iran gesteuerte Gruppierungen sowie der – hierdurch mit verursachte – Rechtsruck in Israel ließen seine Zweifel an einer solchen politischen Lösung des Nahostkonfliktes jedoch wachsen. In sehr deutlichen Worten trat er allen Versuchen entgegen, Israel allein für seine entschiedene Haltung gegenüber dem Terror, für das weitgehende Scheitern aller Vermittlungsbemühungen verantwortlich zu machen.

Der Gaza-Krieg 2014
Das Verhalten der israelischen Regierung und Politik im Gaza-Krieg 2014 verteidigte Carlo Strenger anfangs entschieden, trotz innerer Ambivalenz. Die Tunnel, die Terrorgruppen wie die Hamas immer wieder gen Israel gruben – anstatt ihr eigenes, friedensbereites Land aufzubauen – , waren für ihn wie für alle Israelis ein tiefer Schock. Dennoch war der liberale Kosmopolit über die Vehemenz der Angriffe, der Verdächtigungen erschrocken, denen verständigungsbereite Vertreter »der« Friedensbewegung in Israel ausgesetzt waren. Die Angriffe der »Falken« galten ihm, aber auch David Grossmann und dem kürzlich verstorbenen Amos Oz.

»Israels Rechte«, so Strenger in einem seiner sehr zahlreichen politischen Essays insbesondere in der NZZ, »hat sich immer tiefer in ihre Weltanschauung vergraben, und die Linke ist immer weiter in Apathie versunken«. Und was noch an Hoffnung vorhanden war wurde nach und nach zermürbt von den grausigen Selbstmordanschlägen der zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre, durch die ungebremste israelische Siedlungspolitik, durch den Kreislauf der Gazakriege.

Israel entfernt sich von Herzl
Als Vertreter eines liberalen Zionismus, der aus tiefer innerer Überzeugung vom »sicheren« Zürich nach Israel eingewandert ist, beunruhigte ihn die seit zwei Jahrzehnten anhaltende Tendenz in Israel, sich in eine »illiberale Demokratie« (Strenger in der NZZ, 02.05.2019) zu verwandeln. Vergleiche zu den rechtspopulistischen Tendenzen Ungarn und Polen seien durchaus nicht abwegig. Als Linksliberaler habe er die Verpflichtung, solche Tendenzen schonungslos und doch mit Liebe zu analysieren und vor ihnen zu warnen. Deshalb wunderte es ihn, dass man ihn auf Facebook sowie per Mail als Israeli beschimpfte und ausgerechnet ihm »Israel-Bashing« vorwarf.

Das aus der Shoah gewachsenes Motto des »Nie wieder!« bleibe seine innere Verpflichtung, »unabhängig von Religion, Nationalität oder Ethnie«. Die viele Jahrhunderte alte jüdische Tradition »der endlosen Diskussion«, des inneren Dissens, müsse bewahrt und verteidigt werden. Es wäre »für mich eine Katastrophe«, wenn dieses »ad acta« gelegt würde, schrieb Carlo Strenger im Mai 2019. Angriffe gegen die akademische Lehrfreiheit sowie gegen die journalistische Freiheit müssten entschieden abgewehrt werden. Dies entspreche Herzls liberal-zionistischer Vision. Netanyahu fortwährendes Taktieren hingegen und dessen Versuch, »seine Wählerbasis gegen die Justiz des Landes aufzuwiegeln«, sei eine ernsthafte Gefahr für den liberalen Geist in Israel. Die Demokratie müsse immer wieder und im Alltag verteidigt werden.

Der Antisemitismus in der Linken und der Rechten
Der Antisemitismus, der ab den späten 1960er Jahren durch die westliche Linke geschürt wurde – Dieter Kunzelmann ist ein besonders niederdrückendes Symbol hierfür–, ist immer wieder analysiert worden. BDS und das, was dieser repräsentiert, ist beileibe kein neues Phänomen. Carlo Strenger knüpft hieran argumentativ an und ringt politisch und kulturell für einen besseren, angemesseneren politischen Weg.

Verteidigung gegen den Terror
Gegen Terror hilft keine Strategie der Bagatellisierung, des Klein-Redens. Terror muss Terror genannt werden und diesem muss vom Rechtsstaat und von den Freien Ländern energisch und selbstbewusst entgegengetreten werden. Daran ließ Carlo Strenger nie einen Zweifel: »Wichtig ist eine klare Sprache. Der Terror wird nicht abnehmen, er wird zunehmen. Wir werden uns wehren müssen. Und man braucht ein öffentliches Gespräch darüber, mit welchen Mitteln damit nicht, wie in den USA, eine staatliche Unterwelt von Geheimgerichten und -gefängnissen entsteht«, sagte er im Interview mit der ZEIT.

In Israel ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Großveranstaltungen und zentrale Institutionen wie Flughäfen fortdauernd und sehr konsequent geschützt werden. Dies müsste Europa und die Freie Welt noch lernen. Er und seine Frau hätten bei Restaurantbesuchen den diensthabenden Soldaten am Eingang immer gefragt, in welcher Einheit er gedient habe. Bei unbefriedigenden Antworten habe er das Restaurant wieder verlassen. Auch ihm ziehe sich an der Uni in Tel Aviv der Magen zusammen, wenn er dort eine junge muslimische Frau mit Rucksack sähe. Die eigene und kollektive Gefährdung ist in das Seelenleben der Menschen eingedrungen. Sie ist ein Teil von uns. Verleugnung sei keine hilfreiche Umgangs- und Verarbeitungsform. Dies gelte es zu akzeptieren, wenn man weiterhin in einer demokratischen, liberalen Welt leben wolle. Terror erfordert entschlossene Gegenwehr. Auch er selbst müsse in Israel immer wieder um seine liberale Grundhaltung kämpfen. Naivität hilft gegenüber der konkreten Gefährdung durch den Terror nicht weiter. Sie verstärkt den Willen zum Terror sogar noch, betont der Psychoanalytiker.

Zivilisierte Verachtung
Der globalisierte Kapitalismus stelle den modernen Menschen vor große Herausforderungen. Das Bewahren eines stabilen Selbstwertgefühles sei eine große Herausforderung. Den Forderungen nach einer politischen Korrektheit stand Carlo Strenger in seinen Publikationen hingegen sehr kritisch gegenüber. Diese lähme große Teile der Linken und verhindere ein entschlossenes Entgegentreten gegen die Gefahr, die insbesondere Rechtsradikale weltweit darstellen. Der heutige Mensch bleibe verantwortlich dafür, sich umfassend zu informieren und seinen eigenen Standpunkt immer wieder zu überprüfen. Das machtpolitische Scheitern der Linken und Linksliberalen, auch in Israel, sei zum großen Teil selbstverschuldet, führte der kritische Intellektuelle immer wieder vor seinem eher linksliberalen Lesepublikum aus. Dieser Gefahr gelte es mit einer »zivilisierten Verachtung« entgegenzutreten – dies war zugleich Titel seiner 2015 erschienenen Essaysammlung. Der brutale Terroranschlag vom 11.09.2001 wie auch die westlichen Gegenreaktionen hierauf – der Afghanistan- und der Irakkrieg – waren für ihn Belege für ein politisches Scheitern:
»Knapp 15 Jahre später kann die Bilanz nur lauten, dass Bushs Krieg gegen den Terror ein totaler Fehlschlag war. Afghanistan versinkt im Chaos, der Irak steht im Begriff auseinanderzubrechen«, schreibt er in seinem Buch. Nachdrücklich mahnt der Philosoph: »Will der Westen seine Werte und seine Lebensweise nicht nur militärisch, sondern auch argumentativ verteidigen, besteht die einzige Möglichkeit in der Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung.« Dies beinhalte auch scharfe Kritik an repressiven Regimes wie dem Iran.

Alle Formen einer ressentimentgeladenen Grundhaltung – hier schließt Strenger bewusst auch Sarrazins populistischen Thesen mit ein – seien mit dem Geist einer westlichen Demokratie nicht vereinbar. Entscheidend für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts sei die Bereitschaft aller Beteiligten, die historischen Fakten »und damit die Geschichte des anderen« zu akzeptieren. Strenger verweist auf die Charta der Hamas, die weiterhin eine Dämonisierung Israels beinhaltet. Er beklagt im gleichen Atemzug jedoch auch die Weigerung eines Teils der israelischen Öffentlichkeit, die Analysen der »Neuen Historiker« zu akzeptieren. Die Identität Israels beruhe weiterhin auf dem Narrativ, dass Israel moralisch fehlerfrei sei.

Entscheidend für einen Fortschritt sei die Fähigkeit, Kränkungen zu ertragen. Abschließend hebt Strenger in seinem Buch »Zivilisierte Verachtung« hervor: »Liberale werden in Israel zwar nicht unterdrückt oder verfolgt, aber wir sind eine Minderheit, die politisch immer weniger Einfluss hat.« Die Leidenschaft für die Freiheit sei »eine unentbehrliche Vorbereitung auf zukünftige Gefahren«.

Die Gefahr der Selbstzerstörung der liberalen Demokratien
Vor acht Wochen, Anfang September, warnte Carlo Strenger in der NZZ vor der Gefahr, dass sich Demokratien selbst zerstören. Beispiele hierfür gebe es mehr als ausreichend; der amerikanische Präsident Trump – dem die Washington Post allein »rund 12.000 Lügen nachgewiesen« habe, sei ein besonders herausragendes Beispiel hierfür. Aber auch die anhaltenden juristischen Verfahren gegen Israels Premierminister Netanyahu seien zutiefst besorgniserregend.

Zynismus in der Politik sei jedoch keinesfalls eine israelische Spezialität; dieser sei auf allen Kontinenten zu finden. »Das Problem ist, dass von Bolsonaro bis Putin und von Trump bis Netanyahu genügend gewiefte Politiker an der Macht sind, um die liberale Demokratie zum Spottwort machen.«

Nun ist diese furchtlose, kluge Stimme verstummt. Es ist furchtbar. Und es ist zugleich eine Verpflichtung für uns alle. Man könnte Verzweifeln.

von Roland Kaufhold


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