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Edward Erdos: »Die Milgram-Falle«
Edward Erdos: Die
Milgram-Falle
psychosozial 120 (2010), 85–101
Übersetzt von Doris Fischer
Im aktuellen Heft der psychosozial wertet
Edward Erdos das bekannte Milgram-Experiment (1974) sowie
die erneuerte Nachfolgeuntersuchung von Jerry Burger (2009)
neu aus und kommt zu Ergebnissen, die vielen nicht gefallen
werden. Teilen Sie uns Ihre Meinung dazu mit!
Aus dem
Artikel:
»Milgrams
bahnbrechende Experimente zur Gehorsamsbereitschaft
gegenüber Autorität faszinieren noch heute, mehr
als 45 Jahre nachdem sie durchgeführt wurden (Milgram
1974; dt. 2007).
Milgram hat gezeigt, welche unvorstellbare Macht eine
anonyme Autorität auf durchschnittliche Individuen
ausüben kann, sodass diese bereit sind, gegen ihre
moralischen Instinkte zu handeln. Seine Versuchspersonen
waren bereit, freiwilligen »Mitprobanden«
Elektroschocks von zunehmender Stärke zu verabreichen,
die im Extremfall zu quälendem Schmerz oder sogar zum
Tod hätten führen können; dies geschah im
Rahmen eines Experiments, dessen angeblicher Gegenstand die
Auswirkung von Strafe auf Lernen war. Das entscheidende
Problem besteht bis heute darin, das erstaunliche
Ausmaß an Gehorsamsbereitschaft ganz normaler
Menschen zu erklären (zwischen 50% und 65% der
Versuchspersonen).
Jerry Burger von der Santa Clara Universität in
Kalifornien hat Milgrams Experiment vor Kurzem wiederholt,
allerdings mit wichtigen Modifikationen, die aufgrund
nachträglich eingeführter ethischer Richtlinien
notwendig geworden waren. Im American Psychologist vom
Januar 2009 stellt er seine Ergebnisse detailliert vor
(Burger 2009). Er fand heraus, dass Gehorsam weder mit
ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Bildung noch
Persönlichkeitsvariablen korreliert. Dr. Burger
schließt sich der Erklärung Milgrams an, dass es
die »Macht der situativen Kräfte [ist], die den
Probanden veranlassen, sich den Anweisungen des
Versuchsleiters zu fügen« (ebd., S. 10;
Übersetzung D.F.).
Diese Ergebnisse lassen auf eine in uns allen schlummernde
angeborene Fähigkeit zur Unmenschlichkeit
schließen, die von sozialen Kräften unserer
Umgebung ganz leicht geweckt werden kann, zum Beispiel von
einem Mann im weißen Kittel, der uns
anstachelt.
Ich glaube, dass viele von uns über eine
Einschätzung unseres Charakters als derartig extrem
oder sogar diabolisch zutiefst beunruhigt sind.
Nach meiner Überzeugung ist die einzige Erklärung
für eine derartig ungewöhnliche
Willfährigkeit von eigentlich moralischen Individuen,
dass sie in eine Falle geraten sind, sogar in eine
besonders heimtückische. Ich will damit nicht
andeuten, dass Milgram seine Experimente mit der Absicht
konzipiert hat, irgendjemanden zu täuschen, aber
– und das hat meines Wissens bislang noch niemand
behauptet – genau das ist passiert.
Ich fokussiere insbesondere auf die dominierende Rolle der
individuellen Moral und Verantwortung in dieser Dynamik.
Das Individuum ist sich sicher bewusst, dass es moralisch
falsch ist, das Opfer trotz seiner Proteste mit
Elektroschocks zu bestrafen. Nach meiner Ansicht ist es
genau dieses Bewusstsein, das viele dazu bringt,
weiterzumachen und gegen die eigene Überzeugung und um
den Preis eines beträchtlichen inneren Zwiespalts dem
Opfer immer stärkere Stromstöße zu
verabreichen. Denn nicht zu gehorchen und aufzugeben
würde bedeuten, die alleinige Verantwortung für
den Schmerz und das Leiden des Opfers bis zu diesem
Zeitpunkt selbst zu übernehmen, während
weiterzumachen bedeutet, die Schuld für die Folter
und möglicherweise den Tod allein der
Autoritätsperson anzulasten. Wie die Daten belegen,
ist es für die Versuchspersonen umso schwerer
aufzuhören, je stärker die verabreichten Schocks
waren: Gegen Ende gibt niemand mehr auf.
So betrachtet wird deutlich, dass die meisten Teilnehmer in
der Tat schnell in eine Falle gehen, die darauf wartet
zuzuschnappen, sodass ein Entkommen für einen
Ahnungslosen, der sich zu spät besinnt, unmöglich
ist.
Ich glaube nicht, dass wir hilflose Werkzeuge einer
sozialen Ordnung sind. Vielmehr lassen wir uns kurzsichtig
auf Situationen ein, in denen relativ kleine, im Namen
einer Autorität begangene Übertretungen, schnell
zu viel größeren Vergehen verleiten können,
wodurch ein Ausstieg viel schwieriger wird. Ich werde auf
die moralische Verantwortung des Individuums eingehen und
ihren wichtigen Einfluss auf die Ergebnisse in Milgrams
Experimenten hervorheben. Ich hoffe, ich kann dazu
beitragen, deutlich zu machen, dass diese erschreckenden
Resultate uns nicht zu der Annahme zwingen, dass Gehorsam
gegenüber einer Autorität in uns als Gattung
fest verankert ist. Diese Erkenntnis sollte es
ermöglichen, vergleichbare Situationen durch Erziehung
und Moral besser zu beeinflussen.«
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