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Hans Keilson ist tot

Psychoanalytiker Hans Keilson ist tot

Er starb im Alter von 101 Jahren am Dienstag, den 31. Mai 2011, in einem Spital in Hilversum in den Niederlanden, 
wie der Verlag des jüdischen Autors, S. Fischer, am Abend in Frankfurt am Main mitteilte.

Wir möchten ihm mit dem Nachruf von Roland Kaufhold (Quelle: http://haGalil.de) gedenken:

»Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte – sprachloser Himmel«
Zum Tode von Hans Keilson (12.12.1909 – 31.5.2011)

Sein Leben hat mehr als 100 Jahre berührt, durchlebt: glückliche, traumatische, mörderische, produktiv verarbeitete – nun ist er nicht mehr unter uns. Heute, am 31. Mai 2011 ist der jüdische Schriftsteller, Psychoanalytiker, Exilant und Menschenfreund Hans Keilson im Alter von 101 Jahren in einem Krankenhaus im niederländischen Hilversum verstorben. Ich werde ihn vermissen. Er hat das Leben zahlreicher Leser bereichert, weltweit. Was jedoch mehr zählen mag ist Hans Keilsons jahrzehntelange psychotherapeutische Arbeit mit jüdischen Jugendlichen, Überlebenden der Schoah. Ihnen hat er Lebensmut geschenkt, über ihr schweres Schicksal hat er geschrieben. Immer wieder.

Der am 12.12.1909 im brandenburgischen Bad Freienwalde geborene Hans Keilson wächst in einer liberalen jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Er wird von jüdischen Lebenszusammenhängen geprägt und zeigt bereits früh ein breites kulturelles und musikalisches Interesse: Er begeistert sich für die Natur, radelt gerne inmitten der reichen Natur und liest viel. Seine breitgefächerten Interessen sollten ihn ein Leben lang begleiten: Er liest früh die Schriften Freuds, begeistert sich für dessen klaren Duktus, dessen Menschenkenntnis, dessen aufrührenden Entdeckungen. Und er schreibt bereits als Jugendlicher Gedichte, Erzählungen. 17-jährig gewinnt er bei einem Schülerwettbewerb des Börsenvereins mit einem Text über Hesses »Demian« den dritten Preis – und kauft sich für das Preisgeld gleich weitere Schriften Freuds.

Der Jude Hans Keilson vermag seine Erfolge und Talente nicht lange zu genießen. Früh erlebt er antisemitische Übergriffe, wird 1925 wegen eines schulischen Vortrags über Heines Revolutionsgedicht »Die Weber« in seiner Klasse isoliert. »Es beschmutzt das eigene Nest«, wird dem Juden Hans Keilson mitgeteilt. Die Preisverleihung bleibt in seiner Klasse unerwähnt. Der junge Intellektuelle lernt früh, die eigene existentielle Bedrohung – wie die seines jüdischen Volkes – nüchtern anzuerkennen, zu analysieren.

Von 1928-1934 studiert Hans Keilson in Berlin Dank der finanziellen Unterstützung eines Onkels Medizin, machte parallel dazu eine Ausbildung als Sport- und Schwimmlehrer – eine vorausschauende Entscheidung. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Musiker, spielte Trompete und Geige, in Bands – eine Leidenschaft, die er sich zeitlebens bewahrt hat.

Er kommt in diesen Jahren mit zionistischen Überlegungen in Berührung, beteiligt sich für den jüdischen Verein Bar-Kochba auf dem Berliner Kaiserdamm am Staffellauf, erlebt die jüdischen Feiertage in der Synagoge und im Elternhaus. Die Ermordung Walter Rathenaus alarmiert ihn, er wohnt einer Rede Goebbels bei, »hörte seine salbungsvoll beschwörende Stimme« (Keilson 2005, Bd. 1, S. 463).

23-jährig publiziert er seinen ersten Roman, betitelt mit »Das Leben geht weiter – Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit« – zugleich ein Lebensmotto. Es bleibt ihm keine Zeit, seinen frühen, beachtlichen literarischen Erfolg zu genießen: Sein beim renommierten Fischer Verlag publiziertes Buch – zugleich das letzte Werk eines jüdischen Autors bei Fischer – wird aus rassistischen Gründen verboten – und erst 50 Jahre später wieder bei Fischer neu aufgelegt. Vor wenigen Monaten präsentierte der Verlag eine Neuauflage dieses bemerkenswerten Familienromans, Neuauflagen seiner weiteren Werke sind in zahlreichen Ländern sind in Vorbereitung.

Hans Keilsons existentielle Bedrohung nimmt zu: 1934 folgt ein Praxisverbot für den jungen jüdischen Arzt. Hans Keilson, der Überlebenskünstler, macht das Beste aus der schwierigen Situation: Er arbeitet als Erzieher und Sportlehrer an verschiedenen jüdischen Schulen, so am Landschulheim Caputh und an der Theodor-Herzl-Schule in Berlin. Diese Arbeit mit Jugendlichen, unter den Bedingungen der eigenen existentiellen Gefährdung, hinterlässt prägende Spuren in ihm. Und doch schreibt er weiterhin – ausgerechnet auf deutsch: 1934 publiziert er in der jüdischen Zeitschrift »Der Morgen« sein erstes Gedicht: »Neuer Psalm«, 1936 folgt die pädagogische Reflexion »Juden und Disziplin«.

Die gewalttätigen Lebensbedingungen lassen ihm keine Zeit mehr, dieses Engagement in Deutschland fortzuführen. Im Oktober 1936 überzeugt ihn seine Ehefrau Gertrud Manz von der Notwendigkeit einer Emigration: »In Holland gibt es auch Kinder, für die du arbeiten kannst« (Keilson 2005, S, 414), beteuert sie ihm. Auch der Schriftsteller Oskar Loerke, der die Veröffentlichung seines Erstlingsroman unterstützt hatte, bedrängt ihn, möglichst rasch zu emigrieren. Der 26-jährige flieht in die Niederlande, lebt dort, anfangs noch unter »legalen« Bedingungen. Es gelingt ihm, sein professionelle Ausbildung trotz der veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen fortzuführen. In den ersten Jahren, bis 1940, baut Hans Keilson eine Beratungspraxis für Jugendliche auf, um »abzuwarten, bis der Krieg käme, von dem ich überzeugt war, dass er eines Tages, vielleicht bald ausbrechen würde« (Keilson 2005, S. 229). Er lernt intensiv niederländisch und arbeitet in den »Rekken’schen Inrichtungen« mit schwer verwahrlosten Jugendlichen, wie auch mit untergetauchten jüdischen Kindern und Erwachsenen, versucht, Spannungen und Konflikte zwischen den Untergetauchten und ihren Beschützern zu bearbeiten, erwirbt so in der täglichen Arbeit profunde psychologische Kenntnisse. Die frühere Lektüre der Schriften Freuds bietet ihm hierbei theoretische Orientierungen. Der niederländische Leiter dieser therapeutischen Einrichtung lässt den Juden Keilson in dieser Zeit bei sich wohnen, im Wissen um die hierdurch bedingte eigene Gefährdung. Jahrzehnte später erinnert er sich an diese prägenden Erfahrungen: »Ich war kein Held und habe keine großen Taten vollbracht, mit Waffen kann ich nicht umgehen. Aber wenn ich mich, nach dem Krieg, an das eine oder andere erinnerte, lief es mir manchmal kalt über den Rücken.« (Keilson 2005, S. 219) In dieser bedrohlichen Zeit bekommen die Keilsons eine Tochter. Wenig später, in der Phase einer Illegalität, kann er seine Tochter nur noch selten sehen. »Im Mai 1945 war es das erste Mal, dass wir uns zu dritt ungefährdet auf die Straße begeben konnten. Alle unsere Nachbarn kannten uns. All die Jahre haben sie dichtgehalten.« (Keilson 2005, S. 234)

Nach der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten im Mai 1940 muss Hans Keilson, unter falschem Namen, in den Untergrund gehen. Täglich ist er als Jude, Emigrant und Widerstandskämpfer von der Gefahr der Denunziation bedroht, sucht Zuflucht bei niederländischen Freunden. Und doch: Das Leben geht weiter. 1942 verfasst er die ersten 40 Seiten der Parabel »Der Tod des Widersachers«, vergräbt das Manuskript in einem Garten, um die Arbeit am Buch nach dem Krieg wieder fortzusetzen. 1959 erscheint es auf deutsch.

Hans Keilson wird nicht denunziert, überlebt. Seine Eltern hingegen werden in Birkenau ermordet. Er widmet ihnen die Gedichte »In den Tagen des November« (1947), »Sterne« (1967) und »Dawidy« (1997).

Keilson schreibt, zu seiner eigenen Überraschung, »im zweiten Jahr meiner Emigration (...) in einer plötzlichen Aufwallung eine Anzahl deutscher Gedichte« (Keilson 2005, S. 227). Er publiziert diese unter zwei Pseudonymen in niederländischen Zeitschriften.

Kurz nach dem Ende des Krieges, 1947, nach Beginn seines neuen Lebens in den freien und demokratischen Niederlanden, verfasst der 38-jährige die Novelle »Komödie in Moll«. Diese erscheint im niederländischen Exilantenverlag Querido – und erst 40 Jahre später auf Deutsch. In dieser tragisch-bizarren Erzählung beschreibt er den Versuch zweier Holländer, die Leiche eines Juden, der bei ihnen Unterschlupf gefunden hatte, verschwinden zu lassen, ohne die Untergrundbewegung zu gefährden.

Unmittelbar nach Ende des Krieges kommt Keilson mit der »Joodse Coordinatie Commissie« in Kontakt, gründet, durch eine »euphorische Stimmung« (Keilson) beflügelt, mit anderen Überlebenden die jüdische Kriegswaisenorganisation »Le Ezrat Hajeled« (»Zur Hilfe des Kindes«), für die er bis 1970 wirkt. Er spricht mit vielen kindlichen Überlebenden der Schoah, hört unglaubliche, erschütternde Berichte, versucht ihnen zu helfen. Da sein Medizinstudium in den Niederlanden nicht anerkannt wird studiert er noch einmal Medizin, anschließend beginnt er seine psychoanalytische Ausbildung – der Anfang einer seelischen Kontinuität, einer Brücke über die biographischen Abgründe und erlebten Traumatisierungen. Er arbeitet an der Amsterdamer Child Guidance Clinic Prinsengracht. 1967 wird er Mitarbeiter der kinderpsychiatrischen Universitätsklinik Amsterdam, erstellt in diesem Rahmen zahlreiche Gutachten über verfolgte jüdische Kinder, die wiederum Grundlage für die Entscheidung sind, an welchem sozialen Ort diese traumatisierten Kinder nun leben sollen. In einem elfjährigen Forschungsprozess verfasst Hans Keilson eine wegweisende empirische Studie über kumulative Traumatisierungsprozesse, die er knapp 70-Jährig in einer Promotion zusammenführt: Seine »Sequentielle Traumatisierung« erscheint erstmals 1979, wurde auch auf englisch publiziert, in Israel und den USA; heute ist sie ein psychoanalytisches Grundlagenwerk über Traumatisierungsprozesse.

»Nebenbei« veröffentlicht Keilson weiter literarische Werke, erlebt die Neuauflage seiner frühen Werke: 1963 erscheint mit »Sprachwurzellos« eine Auswahl seiner Gedichte, 1984 und 1994 Zeitschriftenstudien über seine psychotherapeutische Arbeit mit einem 12-jährigen Überlebenden von Bergen Belsen. Von 1985 – 1988 ist er Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (www.exil-pen.net) – aber erst ab den 1990er Jahren erhält er zahlreiche wissenschaftliche und literarische Auszeichnungen – spät, aber doch nicht zu spät. Hans Keilson, dieser zurückhaltend-freundliche Menschenkenner, hat vielen Hoffnung gemacht. Sein breitgefächertes Lebenswerk erschien 2005 in einer zweibändigen, 1100 Seiten umfassenden Werkausgabe. Es verdient, gelesen zu werden.

Mit seinem 100. Geburtstag wird Hans Keilson weltweit geradezu hymnisch gefeiert, insbesondere in den USA. Die New York Times ernannte ihn 2010 zum »genius«, seine Romane zu »masterpieces« – eine tröstende Erfahrung für diesen bescheidenen, trotz seiner verstörenden Erfahrungen zutiefst lebensbejahenden Autor. 2011 legte der Fischer Verlag zeitgleich drei Werke Hans Keilsons als Taschenbücher vor: Neben einer Neuauflage von »Das Leben geht weiter« erschien ein kleiner Band mit seinen wichtigsten Essays sowie Interviews aus den letzten zwei Jahren, wie auch sein letztes, mit autobiographischen Erinnerungen angefülltes Werk, betitelt mit »Da steht mein Haus. Erinnerungen«


Nun, wenige Wochen später, hat uns Hans Keilson im Alter von 101 Jahren verlassen. Es bleibt eine Leere, Trauer.

Seine berührenden Schriften sind alle wieder zugänglich:
Hans Keilson (2005): Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. H. Detering & G. Kurz. Frankfurt a. M. (Fischer)
Hans Keilson (2005a [1979]): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Gießen (Psychosozial Verlag).
Roland Kaufhold (2008): »Das Leben geht weiter«. Hans Keilson, ein jüdischer Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pädagoge und Musiker, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis (ZPTP), Heft 1/2-2008, S. 142-167. www.zptp.eu/aduploads/zptp2008h1-2_kaufholdkeilson.pdf
Roland Kaufhold (2009): »Literatur ist das Gedächtnis der Menschheit«: Der jüdische Psychoanalytiker, Schriftsteller und Pädagoge Hans Keilson, haGalil, 12.12.2009. www.hagalil.com/archiv/2007/11/keilson.htm
Roland Kaufhold (2009a): Weiterleben – biografische Kontinuität im Exil. Hans Keilson wird 100, psychosozial Nr. 118 (4/2009), S. 119-131.
Roland Kaufhold (2009b): Hans Keilson wird 100. Schriftsteller, Traumatherapeut, Psychoanalytiker, Tribüne H. 192, 4/2009, S. 10-13
Roland Kaufhold (2010): »Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte – sprachloser Himmel«. Hans Keilson wird 100, Kinderanalyse, 1/2010 17. Jg., S. 94-109.

Weitere verwendete Quellen:
http://www.hagalil.com/archiv/2007/11/keilson.htm
http://buecher.hagalil.com/2011/04/keilson/
http://buecher.hagalil.com/2011/05/keilson-2/


 


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