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Psychoanalyse in der virtuellen Welt – nur konsequente Weiterentwicklung oder Verbrechen an der Lebenswirklichkeit?
Psychoanalyse in der virtuellen Welt – nur
konsequente Weiterentwicklung oder Verbrechen an der
Lebenswirklichkeit?
Presseinformation zur 62.
Jahrestagung der DGPT
Halle, den 23. September 2011 – Der Renner auf dem
psychotherapeutischen Gesundheitsmarkt ist zweifelsohne die
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), eine um Denk- und
Gefühlsprozesse erweiterte Verhaltenstherapie, die
ursprünglich aus der Enttäuschung von
Ausbildungskandidaten an den Schwierigkeiten
psychoanalytischer Behandlungen erwachsen ist. Sie sieht
von unbewussten Prozessen ab und wird so attraktiv für
Laien, Kunden und Auszubildende. Außerdem scheint sie
den Patienten ernster zu nehmen, weil sie auf komplizierte
Ableitungen und Interpretationen verzichtet, stattdessen
die Symptome und deren Behandlung ganz in den Mittelpunkt
stellt. Dadurch ist sie auch leichter nachvollziehbar und
beforschbar sowie ein geldwerter Vorteil auf dem
verschärften Markt. »Eine solche Psychotherapie,
die ganz im Bereich der Alltagsplausibilität bleibt
und fließend in Beratung übergeht, hat keine
Mühe, sich in den neuen Medien, wie zum Beispiel dem
Internet, als neues Beratungs- und Behandlungsangebot zu
profilieren; und behauptet sich darin
erwartungsgemäß ausgezeichnet«, sagt
Jürgen Hardt, Psychoanalytiker und
Gründungspräsident der Psychotherapeutenkammer
Hessen anlässlich der 62. Jahrestagung der DGPT. Die
Psychoanalyse hingegen mit ihrem komplizierten Denk- und
Handlungsapparat könne ins Hintertreffen geraten. Sie
werde als dogmatisch, antiquiert (als hätten sich die
seelischen Prozesse in der Zeit der neuen Medien
grundsätzlich geändert) und unnötig
kompliziert (als wäre das Seelische so einfach, wie
der Laie es sich vorstellt) diffamiert. So ist es
verlockend, ebenfalls ein virtuelles Angebot zu machen,
damit wäre sie wettbewerbsfähig gegenüber
der KVT, mit dem Preis, dass sie sich ihr angleichen
würde. Doch das kann nicht das Ziel sein.
Psychoanalyse sollte sich treu und Anwältin der
Lebensrealität, der facts of life, bleiben, will sie
sich nicht selbst im Spiel der Virtualität
verlieren.
Die neuen Medien
Therapie per Internet wird
mittlerweile zum Beispiel für Eltern angeboten, die
ihr Kind während oder nach der Schwangerschaft
verloren haben und auch für andere traumatische
Situationen. Sie kann verlockende plausible Angebote
machen, sie ist niedrigschwellig, überall
verfügbar, insofern kostengünstig und
kundengerecht, weil sich der Kunde »ernst«
genommen und nicht in Frage gestellt fühlt. Ihr
wichtigster Vorteil ist aber dass sie sich ohne Mühe
in den Psychotherapiebeforschungsmarkt und in die
Qualitätssicherung einpasst: ihre Prozesse und
Ergebnisse sind leicht protokollierbar und für alle
nachvollziehbar, selbst für Laien, weil keine
komplizierten fachlichen Interpretationen mehr erforderlich
sind.
Ablauf der virtuellen Therapie
Eine
Internettherapie ist ein Behandlungsprogramm, bei dem die
Gesprächspartner nur per Internet kommunizieren.
Erfüllt man die Voraussetzungen, loggt man sich ein,
der internetgestützte Gesprächsverlauf wird
protokolliert und es gibt eine festgelegte Abfolge. Der
Patient verfasst zum Beispiel verschiedene Texte zu seinem
Problem, und der Therapeut gibt Rückmeldung auf das
Geschriebene. Anschließend werden neue Aufgaben
für die nächsten Texte gestellt. Eine solche
Behandlung kann über mehrere Wochen gehen.
Weil von der unbewussten seelischen Realität abgesehen
wird, mit ihren verborgenen und wirksamen Strukturen,
stehen die Symptome für sich und werden mit der
Krankheit gleichgesetzt. Das ist eine Verarmung
psychologischen Denkens, die besonders den Reichtum an
psychoanalytischen Vorstellungen über das seelische
Leben aufgibt. Dadurch entsteht ein Dilemma: Gibt sie sich
auf, um in falscher Weise zu überleben, oder bleibt
sie sich treu und vertraut darauf, dass die »Stimme
der Vernunft« in Bezug auf die Realitäten des
Lebens wieder Gehör findet. Die Propaganda der
Internettherapie hat einen sehr ernsten kulturellen
Hintergrund, den es psychoanalytisch zu bedenken gilt
– und das ist eine der zentralen Aufgaben des
psychoanalytischen Projektes. Psychoanalyse ist immer bei
der Behandlung von individuellen und gesellschaftlichen
Erkrankungen eine »Hüterin« der
Lebensrealität gewesen.
Umdenken notwendig
Die psychoanalytische
Behandlung imponiert zwar so, als geschähe sie in
einer virtuellen Welt, und wird von daher gründlich
missverstanden, denn in der Tat ist die
Übertragungsrealität eine gemeinsame geteilte
Realität, die in Bezug auf die Beziehungsrealität
gehandhabt wird. Die Lebensrealität der gemeinsamen
Beziehung bleibt Dreh- und Angelpunkt der Behandlung und
überschreitet den Bereich des Virtuellen. Die
Psychoanalytische Kulturkritik hat immer auf die
Verleugnungen der inneren Realität des Menschen
hingewiesen, Illusionen, Rationalisierungen,
Ideologiebildungen als Verblendungen der
Lebensrealität gedeutet und damit die Menschen aus
ihren Träumen aufgeweckt.
Die Entwicklungen der späten Moderne hat in den
entwickelten Gesellschaften, in denen die
Lebensbedürfnisse selbstverständlich erfüllt
sind und nicht mehr bedacht werden müssen, die
Realität fragwürdig gemacht. In Stufen –
der linguistic turn, der aesthetic turn, der
phenomenalistic turn, die virtualization und
schließlich die gamification – ist die
Realität als Faktum und als Bezugspunkt verloren
gegangen. Wir reden über bloße Worte, tauschen
nur noch mehr oder weniger begründete Meinungen aus,
ohne Einsicht anzustreben, machen uns Bilder von Bildern,
was erscheint, ist nur noch so, wie es scheint, alles ohne
jeglichen Bezug auf ein »Anderes«, um das wir
ringen, an dem wir uns stoßen und von dem wir
abhängig sind. Die Realität als das Mach- und
Manipulierbare und als das Hinzunehmende scheint nicht mehr
unterscheidbar zu sein. So wird das Leben und die
Wirklichkeit zu einem Spiel, das ganz in unserer Macht zu
stehen scheint, eine erschreckend schöne Illusion.
Diesen schleichenden Prozess hat Jean Baudrillard schon vor
vielen Jahren das »Verbrechen« – den Mord
– an der Wirklichkeit genannt.
Jürgen Hardt
Psychoanalytiker
Als Publikationen der DGPT erschienen im
Psychosozial-Verlag u.a.: